Fallrekonstruktive Sozialforschung zur Lebensrealität von Menschen mit BGE
Fallrekonstruktive Sozialforschung zur Lebensrealität von Menschen mit BGE
Wir sind ein internationales & interdisziplinäres Forschungsnetzwerk von Wissenschaftler*innen, die sich mit verschiedenen Aspekten der Lebenspraxis von Menschen beschäftigen, die ein bedingungsloses Grundeinkommen1 (im Folgenden abgekürzt „BGE“) erhalten haben oder zumindest eine regelmäßige (in der Regel staatliche) Geldzahlung in beträchtlicher Höhe, ohne dabei Bedingungen bezüglich ihres Verhaltens (in der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft) erfüllen zu müssen.2 Wir interessieren uns aber auch für die Lebenspraxis von Menschen ohne BGE (oder verwandte „bedingungslose“ Geldzahlungen), sofern diese im Hinblick auf ein BGE aufschlussreich ist.
Wir verwenden den englischen Namen „UBI-lived“, weil wir ein internationales Forschungsnetzwerk sind. „UBI“ steht für „Universal“ bzw. „Unconditional Basic Income“. Dies sind die gebräuchlichsten englischsprachigen Pendants zu „BGE“ bzw. „Bedingungsloses Grundeinkommen“. „UBI-lived“ besagt so viel wie „gelebtes BGE“. „Lived“ soll aber zugleich auch eine Abkürzung für den umfänglicheren Ausdruck „lived experiences“ sein, der im Englischen andeutet, worauf unsere Forschung ausgerichtet ist: jene praktischen Erfahrungen und Lebensrealitäten von Menschen mit BGE oder verwandten „bedingungslosen“ Geldzahlungen.
Wir erforschen diese Lebensrealität mit fallrekonstruktiv-hermeneutischen Forschungsmethoden, welche die unvoreingenommene Analyse der ganzheitlichen Besonderheit realer Fallkonstellationen und spezifischer Lebensumstände befördern.3
Warum denken wir, dass dies ein lohnendes Projekt ist?
In den letzten Jahren ist das Interesse an der praktischen Erprobung und wissenschaftlichen Erforschung von Konzepten eines bedingungslosen Grundeinkommens in vielen Ländern der Welt rapide gewachsen, und es scheint auch zunehmend in die Politik vorzudringen. Wie in den 1960er und 1970er-Jahren, als die historisch ersten Grundeinkommensexperimente in den USA & Kanada in bemerkenswerter Größe und wissenschaftlicher Systematik durchgeführt wurden (URL), dominiert bei der heutigen Erprobung und wissenschaftlichen Begleitforschung ein Ansatz, der sich primär auf statistische Daten stützt. Manchmal wird eine solche Forschung zwar durch Fallporträts oder Fallanalysen ergänzt. Aber diese genügen nur selten den Ansprüchen einer professionellen fallrekonstruktiven Sozialforschung. Die naturalistischen Falldaten werden vielmehr überwiegend oberflächlich und kursorisch analysiert, falls überhaupt, nicht selten mit dem simplizistischen Ansatz der „qualitativen Inhaltsanalyse“. Statistische Ansätze können natürlich aus offensichtlichen Gründen wertvolle Forschungsbeiträge auf dem Gebiet der Grundeinkommensforschung leisten. Aber zu viele Menschen glauben, dass sie den „Goldstandard wissenschaftlicher Evidenz“ repräsentieren.4 Dies gilt insbesondere im Hinblick auf sogenannte „randomisierte kontrollierte Studien“ (RKS), die seit einigen Jahren wieder sehr verbreitet sind.5 Aus professioneller, erkenntnistheoretisch-epistemologischer Sicht bedeutet eine solche Sichtweise jedoch unserer Meinung nach eine naive Überhöhung, eine Mystifizierung der Bedeutung von Zahlen in der sozialwissenschaftlichen Forschung.
Ende der 1960er-Jahre, als die historischen Grundeinkommensexperimente in Nordamerika konzipiert wurden, war diese Naivität in den Sozialwissenschaften weitverbreitet und tonangebend. Seit den 1970er-Jahren wurde sie jedoch mit der „interpretativen Wende“ allmählich überwunden.6 Wissenschaftler*innen wie David Riesman, Anselm Strauss, Theodore W. Adorno, Ulrich Oevermann und viele andere haben aufgezeigt, wie wichtig es ist, reichhaltiges „naturalistisches“ Fallmaterial in einer offenen, nicht standardisierten, aber dennoch methodischen, regelgeleiteten Weise zu analysieren, um “grounded theories” zu gewinnen, d.h. „fundierte“ oder „geerdete“ Theorien, die in direkter Auseinandersetzung mit der hochdifferenzierten, konkreten sozialen Lebensrealität von Menschen gewonnen worden sind und nicht bloß aus vergleichsweise abstrakten Statistiken oder aus existierenden theoretischen Modellen abgleitet wurden. Für aus der konkreten Wirklichkeit hergeleitete und in ihr fundierte Theorien reicht es unseres Erachtens nicht aus, Fallanalysen nur eine nachgelagerte, ergänzende, illustrierende oder gar anekdotische Rolle in der Forschung zu geben, wie es bei den meisten Grundeinkommensexperimenten derzeit noch immer der Fall ist. In gewisser Weise müssen Fallanalysen sogar das intellektuelle Zentrum jeder ambitionierten empirischen Forschung in den Sozialwissenschaften bilden.
Statistische Ansätze sind vor allem aus zwei extrinsischen Gründen bis heute dominant geblieben:
1.) In der Grundeinkommensforschung sind aus verständlichen Gründen viele Ökonom*innen (zunehmend auch Psycholog*innen) engagiert. Die Wirtschaftswissenschaft (ebenso die Psychologie) hat allerdings die „interpretative Wende“ der Sozialwissenschaften bisher im Allgemeinen nicht mitvollzogen (ein Punkt, der innerhalb dieser Fächer neben anderem zunehmend kritische Diskussionen hervorzurufen scheint7). Vor diesem Hintergrund fehlt es Ökonom*innen (wie Psycholog*innen) oft an der methodischen Kompetenz zur Durchführung professioneller Fallrekonstruktionen. Sie neigen daher verständlicherweise zu statistischen Forschungsansätzen. Diese werden zwar manchmal durch Fallstudien ergänzt, jedoch bleiben diese dem statistischen Hauptteil der Forschung meist nachgeordnet und sind für diesen selten ausschlaggebend.
2.) Ein weiterer Grund ist, dass Menschen in der Sphäre öffentlicher Politik (Politiker*innen, Aktivist*innen, Journalist*innen usw.) Zahlen lieben, weil sie Fakten leicht verständlich unmittelbar abzubilden scheinen, d.h. ohne die Notwendigkeit einer umständlich erscheinenden Interpretation. Zahlen sind vor diesem Hintergrund mächtige Waffen im öffentlichen Meinungsstreit, obwohl es in Wirklichkeit eine Illusion ist, dass sie nicht ebenfalls eingehend interpretiert werden müssen.
Die fallrekonstruktive Erforschung der Lebensrealität von Menschen, die ein BGE oder zumindest eine regelmäßige staatliche Geldzahlung in substanzieller Höhe erhalten, ohne Bedingungen hinsichtlich ihres Verhaltens erfüllen zu müssen, wird helfen, eine zentrale Frage zu beantworten:
Welche Auswirkungen haben eine bedingungslos zur Verfügung gestellte wirtschaftliche Existenzgrundlage (im Sinne des BGEs) und die damit einhergehende individuelle Freiheit (inklusive der damit sozialstrukturell verfügbaren „Muße“) auf das Leben der Bürger*innen? (Nicht nur im Hinblick auf ihre ‚Arbeitsbereitschaft‘ oder die ‚Stabilität der Familie‘, auf die sich die historischen nordamerikanischen Grundeinkommensexperimente vor dem Hintergrund einer ausgeprägten gesellschaftlichen Vorurteilsstruktur höchst selektiv konzentrierten). Sind diese Auswirkungen in individueller und gesellschaftlicher Hinsicht summa summarum positiv oder negativ?
Dies ist eine komplexe Fragestellung, weil die vielfältigen Auswirkungen immer auch in den Kontext konkreter Lebenskonstellationen und unterschiedlicher Formen der Lebensführung gestellt werden müssen. Ein fallrekonstruktiver Forschungsansatz ist ein fruchtbarer Weg, um diese Vielfalt empirisch anspruchsvoll, realitätsnah, differenziert und unvoreingenommen zu erforschen. Experimentelle Settings der Verhaltensökonomie sind im Vergleich dazu oft zu artifiziell und in der Auswertung zu standardisiert, um ähnliche Ergebnisse erzielen zu können. Abgesehen davon versetzen die Erkenntnisse einer fallrekonstruktiven Forschung statistische Ansätze auch in die Lage, neue relevante Untersuchungs-Items für ihre Operationalisierungsprozeduren zu entdecken und innovative Fragen für ihre frequenzsanalytischen Forschungsbeiträge zu formulieren.
Fußnoten:
1. Ein „bedingungsloses Grundeinkommen“ ist eine periodische, in der Regel monatliche staatliche Geldzahlung, die bedingungslos an alle Mitglieder eines Gemeinwesen (häufig auch noch an weitere Teile der Wohnbevölkerung eines Landes, für Kinder manchmal in geringerer Höhe) ausgezahlt wird, und zwar ohne Bedürftigkeitsprüfung oder Arbeitsanforderung (vgl. Basic Income Earth Network 2021).
In Nordamerika wurde in den 1960er und 1970er-Jahren der Ausdruck „guaranteed income“) (entspricht in etwa dem deutschen Ausdruck „garantiertes Grundeinkommen“) verwendet. Er hat eine breitere Bedeutung und schließt auch direkte Geldzahlungen nur an bedürftige Gruppen ein. Milton Friedmans Idee einer „Negativen Einkommensteuer“ (NES) ist das bekannteste Konzept.
In technischer Hinsicht scheinen die Unterschiede zwischen BGE und NES nicht groß zu sein. Aber auf der Ebene des Rechtfertigungsdiskurses sind die Unterschiede jedoch erheblich: Ein BGE behandelt die Menschen grundsätzlich gleich. Eine NES richtet sich dagegen nur an Bedürftige und impliziert daher zwangsläufig eine Stigmatisierung, auch wenn es großzügig, ohne Verhaltenskontrolle gewährt wird und automatisch, ohne nach Außen sichtbar zu werden, überwiesen wird. In Nordamerika wurden das BGE als auch die NES in den 1960er und 1970er-Jahren unter dem Oberbegriff des garantierten Grundeinkommens („guaranteed income“) diskutiert, ebenso in Deutschland in den 1980er-Jahren. Heute dominiert der Ausdruck „bedingungsloses Grundeinkommen“.
2. Bei solchen Fällen können Kriterien wie Alter, Wohnort, Einkommenshöhe oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe eine Rolle gespielt haben, nicht aber z. B. die Bedingung, dass die zahlungsempfangende Person in einen (z.B. Renten-) Fonds vorher eingezahlt hat oder in der Vergangenheit ihre Arbeitsbereitschaft unter Beweis gestellt hat oder sich auch in der Gegenwart arbeitsbereit zeigt usw.
3. Technisch gesehen bezieht sich der Begriff „rekonstruktiv“ auf Analysemethoden, die der „Rekonstruktionslogik“ verpflichtet sind, im Gegensatz zur „Subsumtionslogik“. In ersterer ist die führende logische Form des Schließens die „Abduktion“ (d.h. die Hypothesen-, Theorie- oder Begriffsbildung), wie sie der amerikanische Logiker und Philosoph Charles Sanders Peirce im Rahmen seiner „Logik der Entdeckung“ („logic of discovery“) benannt hat, im Gegensatz zu den logischen Schlussformen der „Deduktion“ und „Induktion“, die innerhalb der subsumtionslogischen (häufig: der statistischen) Forschung dominieren. „Rekonstruktive“ oder „abduktive“ Forschung strebt also einfach ausgedrückt nach Offenheit und analysiert nicht selektiv mit vordefinierten Hypothesen und Theorien.
Den Begriff „qualitativ“ haben wir hier bewusst vermieden, weil ihm zu Recht vorgeworfen worden ist, zu vage und unpräzise zu sein. Unter qualitativen Forschungsmethoden wird dementsprechend ein höchst heterogenes Sammelsurium von Forschungsmethoden gefasst, die oft wenig miteinander gemein haben. Häufig haben sie lediglich gemein, sich auf reichhaltiges Fallmaterial zu beziehen. Aber selbst darauf bezogen bleibt die Bezeichnung unglücklich vage, denn „Qualitäten“ sind auch für die statistische Forschung konstitutiv (ohne qualitative Items sind Zahlen und Statistiken bedeutungslos) und an der Bezeichnung „qualitativ“ lässt sich nicht klar ablesen, dass es um die Qualitäten von Fallmaterial geht.
4. Einige Beispiele: URL – URL – URL
5. In den letzten Jahren haben RKS‘ wieder einen deutlichen Aufschwung in den Sozialwissenschaften erlebt. Im Jahr 2019 wurde der Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften an Esther Duflo, Abijit Banerjee und Michael Kremer für eine Forschung verliehen, die diesen Ansatz in der Wirtschaftsforschung im Bereich der Entwicklungshilfe angewandt haben. Siehe: URL, URL Abijit Banerjee ist auch am BGE-Experiment in Kenia beteiligt, welches das bisher größte seiner Art ist und von der NGO givedirectly betrieben wird. Die meisten Grundeinkommensexperimente der Gegenwart orientieren sich primär an dem RKS-Ansatz.
6. Der Begriff „interpretative Wende“ oder „interpretative turn“ wird hier in einem sehr allgemeinen Sinne verwendet und bezieht sich auf die Etablierung interpretativer, fallrekonstruktiver Forschungsmethoden in den Sozialwissenschaften. Der Begriff bezieht sich nicht speziell, wie er manchmal auch verwendet wird, auf das Aufkommen des sogenannten Sozialkonstruktivismus, dem sicherlich zurecht eine Tendenz zum Relativismus vorgeworfen wird.
Erwähnte Literatur: